Charakterisierung


Komposition und Kategorien

Die genannten Eigenschaften der Musik Zehms lassen sich als charakteristische Merkmale des persönlichen Stils verallgemeinern. Trotzdem sind viele Kompositionen Einzelwerke, die einen konkreten Entstehungshintergrund haben und neben den typischen Gestaltungsmitteln singuläre Züge aufweisen oder abseits des gewohnten Stils völlig eigene Prinzipien entwickeln. Folgende Phänomene treten nur vereinzelt auf: reine Klangkomposition (Movimenti, 1972, für Streichquartett, Hymne aus den Fünf Tempi für Klavier, 1962/63), freie rhythmische Notation, Verwendung von Zeitleisten, atonale Siebenton-, Elfton- und Zwölftonfelder (Miniaturen für Klarinette, Horn und Fagott, 1971), Aleatorik, Geräusche, außermusikalische Aktionen, Improvisation, Stilpluralismus (Trio capriccioso für Flöte, Oboe und Fagott, 1973), Satire (Schwierigkeiten & Unfälle mit 1 Choral für zehn Bläser und einen Dirigenten, 1974), Resonanzklänge, Hallsimulation, mehrstimmige Trillerpyramiden (Dialoge für zwei Klaviere, 1963), Integration eines Tonbands (Tripelmusik für Violine, Tasteninstrumente und Schlagzeug mit Tonband, 1973), formale Block- und Kontrastbildungen durch den Gegensatz von Metrik und freier Rhythmik (Sechs Gedichte von Marie Luise Kaschnitz für mittlere Stimme und Klavier, 1976), spätromantisch-impressionistische Tonsprache (Tre Ricordanze. Hommage à Wilhelm Furtwängler für Klavier, 1978), Collage aus kurzen, floskelhaften Zitaten und freien Paraphrasierungen (Wie spät ist es, Signor Haydn? für Klavier zu vier Händen, 1980).

Auch wenn die einzelnen Kompositionen immer wieder neue Aspekte in den Vordergrund rücken, ist während des Kompositionszeitraums von über 40 Jahren kein prinzipieller Stilwandel bzw. -wechsel bemerkbar oder etwa ein charakteristischer Früh- oder Spätstil zu unterscheiden. In frühen Werken läßt sich tendenziell noch eine stärkere Nähe zu bestimmten Komponistenvorbildern nachweisen, zum Beispiel bei der an Bartók und Strawinsky angelehnten, motorisch-perkussiven Rhythmik. ähnliche personelle Bezüge verlieren sich in späteren Werken, und es bleibt nur noch eine allgemeine Verbundenheit gegenüber der Musik der ersten Jahrhunderthälfte bestehen. Eine leichte Erweiterung der stilistischen Grenzen, die sich in einer größeren Freiheit in der Besetzung und Form sowie in der Integration von avantgardistischen Elementen äußert, zeichnet sich circa ab 1970 ab. Sie tritt jedoch nur in Einzelfällen auf (Beispiele wurden im letzten Absatz angeführt) und bedeutet keine prinzipielle änderung der Richtung.

Die Werkanalysen haben viele Parallelen zwischen der Musik Zehms und der Musik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgezeigt. Es ließen sich Bezüge zu Komponisten wie Karl Amadeus Hartmann, Bohuslav Martinu, Sergej Prokofjew, Dimitri Schostakowitsch, AntonWebern oder Ernst Krenek feststellen, vor allem aber zu Paul Hindemith, Igor Strawinsky und Béla Bartók.

Auf Bartók gehen zum Beispiel dreisätzige Konzertformen bzw. dreiteilige Konzertstrukturen zurück. Auch neobarocke Tendenzen der Konzerte Bartóks und Strawinskys (Kanontechniken, motorische Concerto-Rhythmik) ließen sich bei Zehm nachweisen. Parallelen zu Bartók und Strawinsky bestehen weiterhin in der Rhythmik, wie oben erwähnt vor allem in frühen Werken. Auf Paul Hindemith geht die intensive Pflege des Klavierlieds und des Klavierlied-Zyklus zurück. Zu Hindemith bestehen außerdem Parallelen in der Harmonik, zum Beispiel in der Kombination von Dur- und Mollvarianten einer Tonart oder in der diatonischen Linienführung, und in der Wiederbelebung des Präludien- und Fugen-Zyklus (Ludus tonalis bei Paul Hindemith, Sechs Präludien und Fugen für Gitarre solo bei Zehm). Hinsichtlich der Besetzung lassen sich Hindemiths Philharmonisches Konzert und Zehms Allegro concertante – beides Orchesterkonzerte – sowie Hindemiths Kammermusiken und die konzertanten, kammermusikalisch geprägten Werke Zehms vergleichen.

Anknüpfend an die Wiederbelebung der Sonatentradition durch Strawinsky, Bartók und Hindemith schrieb auch Zehm zahlreiche Sonaten, vor allem Duo-Sonaten, die – ähnlich wie bei Hindemith – oft mit einem gängigen Orchesterinstrument und Klavier besetzt sind. Zehm verwendete in Anlehnung an Schönberg gelegentlich auch Reihen und Reihentechniken wie Umkehrung, Krebs oder Krebsumkehrung, ohne jedoch nach rein dodekaphonischen Prinzipien zu komponieren.

Es wird oft übersehen, daß in der zweiten Jahrhunderthälfte nicht nur eine Schönberg-Nachfolge, sondern auch eine Nachfolge von Hindemith, Bartók und Strawinsky existierte, der Zehm, wie die angeführten Beispiele belegen, angehörte.

Die Kompositionshaltung und der Stil Zehms lassen sich zusammenfassend wie folgt charakterisieren: Zehm schreibt keine radikale, aber eine unverkennbar zeitgenössische Musik, in der sich der Willen zur Klarheit, Prägnanz und Allgemeinverständlichkeit manifestiert. Er verwendet konzentrierte Formen und gebraucht Thema und Motiv in hergebrachtem Sinn. Das Werk steht insgesamt unter bewahrenden Zeichen. Elemente verschiedener Epochen fließen ein, ein besonders enger Bezug ist zur klassischen Moderne gegeben (Hindemith, Bartók, Strawinsky). Die Harmonik changiert in vielen Stufen zwischen Dreiklang und clusterähnlichen Bildungen. Individualität, Gefühl und Hörerorientierung bleiben als Werte erhalten. Charakteristisch ist weiterhin die rhythmische Vitalität von schnellen Teilen, eine ausgeprägte Lyrik und Expressivität der ruhigen und langsamen Abschnitte sowie eine differenzierte, klangliche Gestaltungsarbeit. Immer komponiert Zehm auch als Musiker, das heißt, er geht „weniger von spekulativen Gesichtspunkten als vielmehr von praktischen aus” und bewahrt eine „musikantische” Sprache.

(...)

Der Name Friedrich Zehm stand nach 1945 nicht an der Spitze der neuesten musikalischen Entwicklungen, fand sich nicht in den Programmheften der großen Festivals zeitgenössischer Musik in Deutschland und spielte letztlich keine bedeutende oder richtungsweisende Rolle in der musikalischen „Mainstream”-Bewegung.

Zehm gehört einer Schule bzw. Nachfolge an, deren Existenz bisher wenig in das Bewußtsein getreten ist, der Nachfolge Hindemiths, Bartóks und Strawinskys. Er schrieb zeitgenössische, moderne, aber nicht modische Musik, die sich durch eine große Präsenz auf der Bühne, auf Tonträgern und im Rundfunk auszeichnete. Diese Öffentlichkeitspräsenz macht die Musik Zehms zu einem wichtigen Aspekt der Geschichte des Musiklebens und verleiht ihr historische Bedeutung. Es bleibt noch vorbehalten, Komponisten wie Zehm in der Musikgeschichtsschreibung zu berücksichtigen, um ein historisch getreues Bild der Musikgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu erhalten. Das allgemeine Phänomen Ende der 70er Jahre, daß sich Komponisten verstärkt einem traditionsorientierten, handwerklich fundierten Stil bedienten, der auch heute noch das aktuelle kompositorische Schaffen prägt und dem Stil der „gemäßigten Moderne” nach 1945 nahe kommt, macht Komponisten wie Zehm letztlich zu Vorreitern dieser Entwicklung.

^

Zum Überblick...